Diesen Text schreibe ich dreieinhalb Wochen, nachdem die Geschichte passiert ist. Ich sitze gerade im Hostel in Kathmandu und am Nachbartisch unterhalten sich ein paar Backpacker über ihren ersten Tag hier. Sie haben Ähnliches erlebt. Ich muss schmunzeln, ich kann mich sehr gut in sie hineinfühlen ...
In meiner ersten Nacht hier in Kathmandu schlafe ich wie ein Stein. Ich bin froh, direkt meinen Rhythmus gefunden zu haben und keinen Jetlag zu spüren. Ich bin etwas aufgeregt, mich wieder in das Chaos dieser mir so fremden Stadt zu werfen und dusche erstmal. Fürs heißes Wasser muss man zuerst die Gasflasche aufdrehen und die richtigen Einstellungen an einem Kasten tätigen, damit das Wasser erhitzt wird. Es ist schon eine andere Welt hier – aber immerhin kann man warm duschen, eigentlich ein Luxus.
Dann frage ich sicherheitshalber an der Rezeption, ob ich hier problemlos alleine rumlaufen kann. Das Hostel befindet sich am Rande von Thamel, der Altstadt von Kathmandu. Der Hostelbesitzer meint, in Thamel könne ich mich getrost alleine auf den Weg machen, auch nachts, solange ich ein bisschen aufpasse. Leute werden mich ansprechen, sagt er, und mir Sachen verkaufen wollen. Manche sind aber einfach nur freundlich, wollen ein bisschen reden und wiederum andere wollen ihr Englisch verbessern.
Nun gut, gesagt getan, wage ich mich auf die Straße. Ich habe eine nepalesische SIM-Karte, weshalb ich das Internet für (für mich) überlebenswichtige Apps wie Google Maps nutzen kann. Ich habe immer ein bisschen Schwierigkeiten mit der Orientierung und so schaue ich viel aufs Handy, während ich durch die Gassen laufe.
Es dauert nicht lange, da werde ich angesprochen. Ein Mann fragt mich, woher ich komme. Und – was ich nicht erwartet hatte – läuft einfach mit mir mit. Es ist mir etwas unangenehm. Er folgt mir durch mehrere Straßen, zum Glück ist viel los und ich fühle mich trotzdem sicher. Es stellt sich bald heraus, dass er mir eine Trekkingtour andrehen möchte. Ich erkläre ihm, dass ich bereits eine Tour gebucht habe und er lässt von mir ab.
Der zweite Mann läuft wieder mit mir mit und möchte mir seine Bildergalerie zeigen. Ich verneine abermals - nein, danke, ich möchte kein Bild kaufen.
Der dritte Mann lobpreist den Tigerbalsam, den er anbietet. Gut gegen Muskelkater, meint er. "No, thank you, Sir!", ist meine Antwort. Und gehe in die andere Richtung.
Ich fühle mich, als wären tausend Schilder auf mich gerichtet, auf denen steht "Sprecht sie an, sie ist neu hier, kennt sich nicht aus, ist ein leichtes Opfer!" Ich weiß, ich habe genau diese Wirkung auf meine Umgebung.
Der vierte Mann ist noch jung, vielleicht Anfang zwanzig, und meint, er möchte nur sein Englisch üben. Er würde nichts verkaufen wollen. Ich erinnere mich an das, was der Hostelbesitzer gesagt hat. Klingt plausibel. Also läuft der Junge mit mir mit und zeigt mir die Stadt. Es ist sehr interessant und wir entdecken Menschen, die verschiedene Riten praktizieren. Es gibt Frauen in roten Gewändern, die Kerzen anzünden, Gläubige, die sich ein Zeichen auf die Stirn malen. Man nennt es Tika, ein hinduistisches Segensmal. Ich bekomme auch eines verpasst. Irgendwann erwähnt mein persönlicher Stadtführer, dass er Schüler an einer buddhistischen Kunstschule ist. Langsam ahne ich, welche Richtung diese Führung hier annimmt und welcher Zweck dahintersteckt. Der Junge zeigt mir die ältesten Gebäude in Kathmandu, führt mich durch Gassen, erklärt, dass das große Erdbeben im Jahr 2015 vieles zerstört hat, was sich an den immer noch vorhandenen Ruinen und leerstehenden Häusern erkennen lässt. Auch sein Vater wäre bei dem Erdbeben ums Leben gekommen. Es trifft mich sehr zu hören, wie viel Leid diese Katastrophe über die Menschen hier gebracht hat.
Irgendwann meint der Junge, dass er mir seine Kunstschule zeigen möchte. Normalerweise malen die Schüler in einem Kloster außerhalb der Stadt, doch für zwei Tage sind sie hier an ihrem Standort in Kathmandu. Bevor ich überhaupt darüber nachdenken kann, sind wir schon da. Immerhin ist die Schule mit einem Schild am Eingang gekennzeichnet und es sind noch andere Leute hier, weshalb ich ins Gebäude folge. Wir betreten einen Raum, in dem ein Mann vertieft über einem bunten Bild gebeugt steht und konzentriert kleine Flächen ausmalt.
Als er uns bemerkt, fährt er kurz zusammen und richtet sich auf. "Namaste", begrüßt er uns. "Das ist mein Lehrer", sagt der Junge auf Englisch und stellt mir den Mann vor. Ich solle mich setzen, er hole schnell Tee ‒ das gehöre sich so, wenn man Gäste im Haus hat.
Etwas perplex sitze ich also an meinem ersten Tag in Kathmandu in einer Malstube, schlürfe eine Tasse Schwarztee und höre einem buddhistischen Kunstlehrer zu, der mir anhand seiner Bilder den Buddhismus erklärt. Wie bin ich denn in diese Situation geraten?
Es ist total interessant. Karma ist ein im Buddhismus weitverbreitetes Konzept, das besagt, dass jede Handlung eine gewisse Wirkung zur Folge hat. Diese Wirkung kann auch erst im nächsten Leben eintreffen. Es ist das Ziel eines jeden Buddhisten, selbst zum "Buddha", zum "Erleuchteten" zu werden – und das gelingt mittels Meditation und Yoga. Auf den Bildern sind diese Konzepte anhand von Figuren und Landschaften dargestellt. Es gibt aber auch Bilder, die Mandalas zeigen, Kreise, in denen der immer selbe buddhistische Gebetsvers steht.
Jetzt ist der Moment gekommen und der Lehrer fragt mich, welches der Gemälde ich kaufen möchte. Ich habe geahnt, dass das eine eingefädelte Masche ist. Ich schlucke und sage, dass es mir leid tut, aber ich noch länger auf Reisen bin und kein Bild mitnehmen kann. Das wäre kein Problem, ist die prompte Antwort. Sie können das Bild auch zu mir nachhause schicken.
Tja, die sind schon wirklich auf alles vorbereitet! Irgendwie wundert mich das gar nicht. Die Werke des Schülers ‒ meines Stadtführers ‒ wären günstiger, meinen die beiden. Die Arbeit eines Meisters koste natürlich etwas mehr.
So frage ich nach dem Preis des Mandalas, das der Schüler gemalt hat. Die Farben gefallen mir und irgendwie wäre es doch schön, eine Erinnerung an Nepal mitzunehmen (wobei ich hier ja noch gar nichts erlebt habe außer diese seltsame Geschichte). Es kostet mehr, als ich erwartet habe.
Ich sage höflich, dass ich verstehe, dass es so viel kosten muss, denn es sind viele Stunden Handarbeit, die im Bild stecken. Ich könne es mir aber nicht leisten. Der Meister kommt mir mit dem Preis entgegen.
Es ist mir immer noch zu teuer. Es tue mir leid, aber ich möchte noch viel und weit reisen und bräuchte das Geld, erkläre ich. Daraufhin bekomme ich ein neues, günstigeres Angebot. Schließlich willige ein. Der Junge ist überglücklich, dass ich sein Bild ausgewählt habe, er bekäme durch den Kauf einige Malstunden bezahlt. Ich hoffe mal einfach, dass zumindest zum Teil stimmt, was die beiden mir hier erzählen. Sonst ärgere ich mich nur und würde das Mandala zuhause auch gar nicht aufhängen wollen. Zumindest habe ich eine interessante Geschichte dazu. Der Junge begleitet mich noch ein Stückchen durch die Stadt und wir verabschieden uns.
Schnell laufe ich ins Hostel und schnaufe durch. Ich war gerade mal zwei Stunden unterwegs und habe es direkt am ersten Tag geschafft, mein Tagesbudget bei weitem zu sprengen.
Zum Mittagessen treffe ich Franzy und Hans von "Rückenwind". Ich kenne Franzy aus Bozen und habe den beiden ein paar Ausrüstungsgegenstände von zuhause mitgebracht, die sie für die Weiterreise benötigen. Die beiden sind seit einem Jahr mit dem Fahrrad unterwegs und von Deutschland aus hierhiergeradelt. Unfassbar, diese Leistung, und faszinierend, was die beiden in dieser Zeit so erlebt haben. Ihre Geschichte kann auf YouTube, Instagram und Facebook mitverfolgt werden, was ich sehr empfehlen kann. Franzy und Hans beruhigen mich direkt und meinen, über so eine Bilder-Kauf-Geschichte hätten hier viele Reisende zu berichten. Jetzt fühle ich mich schon etwas besser.
Trotzdem bin ich noch etwas skeptisch gegenüber dieser Stadt und am Abend bleibe ich lieber im Hostel. Morgen treffe ich meine Gruppe fürs Trekking und ich freue mich schon total darauf, dass es bald losgeht.